15. November 2023, 20:00
Location: Factory im Künstlerhaus, Karlsplatz 5, 1010 Wien
Moderation: Sigrun Höllrigl (Festivalleitung)
Griechenland ist die Wiege der europäischen Dichtung. Sie erlebte im 20. Jahrhundert Weltgeltung durch Jannis Ritsos, Odysseas Elytis (Nobelpreis 1979), Giorgos Seferis (Nobelpreis 1963), Tassos Livaditis, oder Konstantinos Kavafis. Was diese Dichter gemeinsam haben, ist, dass sie existentiell auf unterschiedliche Art und Weise in den griechischen Bürgerkrieg verwickelt waren. Dieser Krieg, der aus der Resistance-Bewegung des 2. Weltkrieges hervorging, ist heute ein blinder Fleck im europäischen Geschichtsbewusstsein. Dieser fehlenden Erinnerung wollen wir in einer international besetzten Diskussionsrunde unter dem Titel "Lost & Found History" mit vielen Fragen und auf der Suche nach Antworten nachgehen.
Eröffnet wird der Abend durch den Kurzfilm "MAUTHAUSEN | The Fugitive" nach Gedichten von Iakovos Kambanellis. Der Poetry Film stammt von Panagiotis Kountouras und Aristarchos Papadaniel, die beide nach Wien anreisen. Iakovos Kambanellis war Häftling im Konzentrationslager Mauthausen. Er schildert die Zeit der Gefangenschaft, den Tag der Befreiung, den 5. Mai 1945, das Leben im Lager in den folgenden Monaten in der Gedichtsammlung "Die Freiheit kam im Mai" (Ephelant Verlag Wien). Im Anschluss zeigt das Vienna Poetry Film Festival den Dokumentarfilm des Schweizer Regisseurs Olivier Zuchuat, der ebenfalls persönlich anwesend sein wird. Sein Film "Wie steinerne Löwen am Eingang der Nacht/Comme des Lions de Pierre à l'Entrée de la Nuit" handelt von dem griechischen Umerziehungslager Makronissos, in dem zahlreiche griechische Dichter interniert waren.
Der Verlag Ypsilon Éditeur (Paris) hat 2013 eine Anthologie von Makronissos-Gedichten auf Französisch herausgegeben: L’amertume et la pierre. Poètes au camp de Makronissos 1947-1951, editiert und übersetzt von Pascal Neuveu. Das Buch enthält Gedichte von Yannis Ritsos, Aris Alexandrou, Tassos Livaditis, Titos Patrikios, Ménélaos Loudémis, Victoria Théodorou, Dimitris Doukaris, Leftéris Raftopoulos, Manolis Kornilios, Kostas Kouloufakos und Tzavalas Karoussos.
Der Dokumentarfilm "Wie steinerne Löwen am Eingang der Nacht" von Olivier Zuchuat feiert im Rahmen des Art Visuals & Poetry Film Festivals Österreich-Premiere!
Ein Poesiefilm auf der Grundlage der MAUTHAUSEN-Kantate von Mikis Theodorakis (Musik) und dem KZ-Überlebenden und Gründer des modernen griechischen Nachkriegstheaters Iakovos Kambanellis (Poesie), neu interpretiert von Aristarchos Papadaniel (Gesang) und Aris Zervas (Cello). Die neuen MAUTHAUSEN Aufnahmen waren die letzten offiziellen Veröffentlichungen, die mit der Erlaubnis des weltberühmten griechischen Komponisten und politischen Aktivisten Mikis Theodorakis (ZORBA, Z) nur einen Monat vor seinem Tod im Alter von 96 Jahren 2021 veröffentlicht wurden. In diesem Kurzfilm sehen wir einen Teil der Proben am 14. Mai 2022 vor dem griechischen Memorial in Mauthausen. Die Proben dienten zur Vorbereitung der Live-Performance, die einen Tag später am Internationalen Tag der Befreiung und des Gedenkens an Mauthausen 2022 in Österreich stattfand.
Zum Hintergrund:
4700 Griechen waren in Mauthausen interniert und gefoltert. 3700 starben im Konzentrationslager. 1000 Griechen haben Mauthausen überlebt.
Zwischen 1947 und 1950 wurden mehr als 80.000 Griechen auf der Insel Makronisos (Griechenland) in Umerziehungslagern interniert. Dort sollte „die Ausbreitung des Kommunismus“ bekämpft werden. Unter den Internierten waren zahlreiche Schriftsteller und Dichter, darunter Yannis Ritsos und Tassos Livaditis. Trotz der Entbehrungen und Quälereien ist es ihnen gelungen, Gedichte zu schreiben, die ihr (Über-)Leben in diesem Konzentrationslager beschreiben. Diese Texte, teilweise in Flaschen im Erdboden vergraben, sind später wieder aufgetaucht. Der Film "Wie steinerne Löwen am Eingang der Nacht" mischt diese poetischen Texte mit den Parolen, mit denen die Internierten permanent aus den riesigen Lautsprechern des Lagers beschallt wurden. Lange, fast hypnotisch wirkende Kamerafahrten durchmessen die Ruinen des Lagers und „prallen“ auf Photographien aus den Archiven. Ein filmischer Essay, der die Erinnerungen an vergessene Ruinen und eine verlorene Schlacht wieder auferstehen lässt… Ein Film, der gleichsam beredt und schlicht ist.
ANMERKUNGEN VON REGISSEUR OLIVIER ZUCHUAT
Normalerweise schreibt man Gedichte, um die Natur zu feiern, um Gefühle wie Liebe oder Schmerz auszudrücken. Es gibt aber auch Menschen, die ein poetisches Werk hinter Stacheldraht und unter Folter geschrieben haben. Die Dichter von Makronissos ließen in ihren Texten die Stimme des Widerstands ertönen, Worte von vitaler Kraft. Ihre poetischen Texte erzählen vom Leben der politischen Gefangenen auf der Insel, erzählen vom Terror und vom Überleben in diesem barbarischen Laboratorium, in dem an der „geistigen Umprogrammierung“ der kommunistischen Widerstandskämpfer gearbeitet wurde. Sie lassen uns die ganzen Schrecknisse nochmals nachempfinden und „sehen“ die allgegenwärtige Angst, das endlose Warten, den quälenden Durst, den erschöpfenden Frondienst, das ewige Steineschleppen. Sie erzählen von den Nächten, in denen die Schreie der Gefolterten durchs Lager hallen. Als ich diese Gedichte zufällig bei einem literarischen Treffen zu lesen bekam, erstand diese schreckliche Vergangenheit „vor meinen Augen“ und ich hatte die Idee, die Bilder der Lagerruinen von Makronissos mit heutigen Bildern zu konfrontieren, in diesem Steinhaufen und Betonverbau nach Spuren dessen zu suchen, was damals passiert ist, und das zu unterlegen mit dem Geschrei aus den Lautsprechern, aus denen nationalistische Parolen tönen, und den Photos der Gefangenen. Ein Film der Erinnerung, der versucht gegen das Vergessen zu kämpfen, und zwar in einem Moment, wo der abstoßende nationalistische Eifer in Griechenland eine Renaissance zu erleben scheint…